10 Thesen zur Coronakrise und das Homeoffice-Paradox
Prof. Dr. Bernhard Badura
10 Thesen zur Coronakrise und das Homeoffice-Paradox (Download PDF, 81KB)
These 1
Zur Bewältigung der durch das Coronavirus ausgelösten Krise sieht sich der Staat gezwungen, das Kontaktverhalten seiner Bürger einzuschränken. Die existenzielle Bedeutung eben dieser Kontakte gerät dadurch auf die politische Tagesordnung. Menschen sind soziale Wesen. Im vertrauensvollen Miteinander in der Familie, mit Freunden, Kollegen oder Bekannten finden wir unsere Bestimmung und die Kraft zur Bewältigung persönlicher wie gesellschaftlicher Krisen. Soziale Isolation und Einsamkeit sind Risikofaktoren für die psychische und körperliche Gesundheit. Was bisher als Schutzfaktor für Gesundheit und Wohlbefinden gilt, wird durch das Virus zum Risikofaktor.
These 2
Neuroforscher erachten unser Streben nach Zugehörigkeit als wichtigen Überlebenstrieb. Menschen sind zur Bewältigung ihres Alltags im Privatleben wie im Beruf abhängig vom persönlichen Austausch und der dabei gewährten Zuwendung, Anerkennung und Unterstützung. Die große Abhängigkeit des Kooperationsvirtuosen Mensch von seinesgleichen begründet zugleich seine große Verwundbarkeit.
These 3
Staatliche Eingriffe in unser Sozialverhalten erschüttern grundlegende Freiheitsrechte einer Zivilgesellschaft - wenn sie nicht gut, d. h. auch wenig konsistent begründet werden und wenn dieser Zustand länger anhält. Sonst erzeugen sie Widerstand und Proteste von nur durch Wutgefühle verbundenen Bürgern. Eine kollektive Bedrohung z. B. durch ein potenziell tödliches Virus kann das Verhältnis zwischen Staat und Bürgern stärken, aber eben auch schwächen. Wahrgenommenes Staatsversagen kann selbst bisher in ihrer Sinnhaftigkeit unbestrittene, ja selbst als unantastbar geltende Institutionen infrage stellen.
These 4
Auch in der Arbeitswelt bewirkt die Pandemie erhebliche Erschütterungen - nicht nur durch Unterbrechung von Lieferketten oder durch einbrechende Nachfrage der Kunden. Homeoffice, bei der Pandemie eingesetzt zur Kontaktbeschränkung, erfreut sich spontan hoher Akzeptanz. Es spart zukünftige Mietausgaben beim Arbeitgeber, reduziert den Nahverkehr und bedeutet einen Quantensprung in Richtung selbstorganisierter Arbeit. Aber sind das tatsächlich die einzigen Gründe für den so bereitwilligen Rückzug von erheblichen Teilen der Erwerbsbevölkerung ins Private?
These 5
Die Coronakrise trifft in Deutschland auf einen seit Jahren beobachtbaren, bisher aber schlicht ignorierten Trend kontinuierlich zunehmender psychisch bedingter Arbeitsunfähigkeit:
• Innerhalb von 10 Jahren hat sich die Zahl der Krankentage wegen psychischer Probleme in Deutschland mehr als verdoppelt: Anstieg von 48 Millionen (2007) auf 107 Millionen (2017).
• Der wirtschaftliche Schaden hat sich von 12,4 Milliarden auf 33,9 Milliarden Euro fast verdreifacht.
• Im gleichen Zeitraum ist das Krankengeld auf über 14 Milliarden angestiegen.
Schützt das Homeoffice vielleicht vor psychischen Beeinträchtigungen durch die bisher praktizierte Präsenzkultur?
These 6
In unserer eigenen Forschung steht das Thema Mitarbeiterbindung im Zentrum der Suche nach Antworten auf die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Arbeit und Gesundheit. Mitarbeiterbindung („commitment“) wird definiert als die Bereitschaft der Mitarbeitenden, sich aus eigenem Antrieb voll für die Ziele und Werte einer Organisation einzusetzen, kognitiv, emotional und, wenn nötig, auch physisch - ohne dass einzelne Leistungen extern („von oben“) vorgegeben, kontrolliert, bewertet und bonifiziert werden. So gesehen bergen eine turbulente Umwelt und die zusätzliche Bedrohung durch einen Virus Herausforderungen, die eigentlich ein Mehr an Präsenz, an Zusammenarbeit und kollektiven Energieaufwand erfordern. Homeoffice schwächt eben diese Voraussetzungen erfolgreichen Krisenmanagements, reduziert Gelegenheiten für persönliche Gespräche, für Kontakte mit Führungskräften, Kolleginnen und Kollegen - „von Angesicht zu Angesicht.“ Auf die Dauer leidet darunter nicht nur die Quantität, sondern auch die Qualität zwischenmenschlicher Prozesse. Bei der Suche nach Antworten auf die Frage, wann und in welchem Umfang zukünftig Homeoffice Sinn macht, gilt es dieses „Homeoffice-Paradox“ aufzuklären
These 7
Könnte der große Zuspruch zum Homeoffice nicht auch auf eine geringe Attraktivität der traditionell praktizierten Präsenzkultur hindeuten? Auf Altlasten der Führungspraxis aus Zeiten der Industrialisierung:
• auf ein Zuviel an Hierarchie und ein Zuwenig an selbstorganisierter Arbeit,
• auf eine Kultur der Angst und des Misstrauens,
• auf verkrustete Silostrukturen und einen Mangel an kundenorientiertem Zusammenwirken,
• auf Führungskräfte, die viel fordern aber wenig fördern?
These 8
Repräsentative Umfragen bei Beschäftigten in Deutschland identifizieren sowohl ein hohes Niveau psychischer Beeinträchtigungen wie auch ein niedriges Niveau an Unternehmensbindung. Die Covidkrise dürfte zu einer weiteren Verschlechterung dieser Situation beitragen. Sie sollte daher Anlass sein, dem Thema Mitarbeiterorientierung insgesamt mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Erste Anzeichen dafür finden sich in den Ergebnissen einer Befragung von Topmanagern, die am 28.08.2020 im Handelsblatt veröffentlicht wurden. Die Covid-Pandemie bewirkt einen „Umbruch in der Arbeitswelt“, insbesondere in der Mitarbeiterführung:
• Davon gehen drei Viertel einer jüngsten Umfrage bei 315 Topmanagern aus.
• Talent- und Personalmanagement gelten jetzt „als größtes Geschäftsrisiko“.
• Vor Ausbruch der Corona-Pandemie lag dieses Thema auf Platz 11 ihrer Prioritätenliste.
These 9
Ist die bisher praktizierte Präsenzkultur noch zu häufig eine Misstrauenskultur? Hohe Ansprüche an das persönliche Arbeitsvermögen - so unser Befund - lassen sich leichter bewältigen, eingebettet in ein soziales Netzwerk vertrauensvoller Beziehungen und getragen von einem gemeinsamen Grundverständnis handlungsleitender Überzeugungen, Werte und Prinzipien. Müssen sie dagegen in einer von Ängsten, Misstrauen und Unsicherheiten geprägten Präsenzkultur bewältigt werden, steigt das Risiko beeinträchtigter Gesundheit, sinkender Leistungskraft und Loyalität.
These 10
Die Pandemie deckt Schwächen bei der Mitarbeiterführung auf. Und diese Schwächen könnten beides erklären, warum bislang so wenig gegen den bereits seit vielen Jahren beobachtbaren Trend zunehmender psychisch bedingter Arbeitsunfähigkeit getan wird und das Homeoffice sich einer so großen Beliebtheit erfreut.